Die Idee zu diesem Blog ist aus Zufall entstanden. Mit Freunden saß man in einer rotweinseligen Runde und plötzlich waren kratzende Strickhosen, verhunzte Poesiealben, furchtbare Haarschnitte und die Ignoranz der Banknachbarin ein Thema. Die Frage stellte sich schnell: Was hat einem in der Kindheit am allermeisten den Nerv geraubt? Vor allem macht es natürlich Freude, sich selbst in den Erlebnissen der anderen wiederzufinden.

Genau deshalb kommt jetzt der Blog ins Spiel. Wo kann man sich besser austauschen, als im Web? Wer sich bemüßigt fühlt, zu einzelnen Lebensabschnitten und Themenbereichen dieses Blogs was beizutragen oder nur zu kommentieren, ist herzlich eingeladen....
Viel Spass beim Mitschreiben und Lesen wünscht Raymond Schön
Montag, 20. August 2007
Eltern und andere Fremdlinge
Mein Freund Ivo (Jhrg. 1969) verriet mir, dass er heute noch beim Anblick eines feuchten Waschlappens Phantomschmerzen im Mundwinkel und angrenzenden Gesichtsregionen bekommt. Nichts war so widerlich, als, noch den leckeren Geschmack des wässerigen Schokoeises im Mund, plötzlich der Mutter hysterische Befehle zu hören: "Komm mal her, wie siehst du denn jetzt schon wieder aus?" Fast so als hätte man nicht eine halbe Stunde brav um dieses Eis gebettelt und es dann gedankenverloren, aber zügig unter den Augen der Mutter in sich hineingeschleckt, sondern wäre soeben vom Schlammcatchen in den Sümpfen Floridas wiedergekehrt! Der Waschlappen wurde aus der Plastictüte gezerrt, man selbst am Haarschopf festgehalten, so gut und schmerzhaft es eben ging. Mit mütterlicher Vehemenz wurde versucht, die Haut bis auf die Leberflecke mittels dieses immer etwas muffelig riechenden Waschlappens blitzeblank zu scheuern. Nun, man will ja nichts böses unterstellen, aber Zärtlichkeit war da selten im Spiel.
Aber diese wiederkehrenden Begebenheiten bringen es doch auf den Punkt: Eine Kindheit ohne Eltern wäre sicherlich entbehrungsreicher, aber dafür wohl weniger peinlich und nervend gewesen. Die Sache mit den Klamotten und den Frisuren ist ja schon angesprochen. Viel nerviger erschien jedoch damals die elterliche Verfügungsgewalt über die eigene Zeit. Ich rede jetzt nicht von den lästigen Hausaufgaben, die Schreibgenies früh morgens in der Schule vor der ersten Stunde noch schnell ins Heft klecksen konnten. Ich meine zum Beispiel die dem Mundwinkelputzen nahverwandte Phobie, das Kind könnte sich einen Schmutzvirus einfangen, an Schmoddertuberkeln zugrunde gehen, von Streptokokken, Endokokken und saprophytären Corinebakterien aufgefressen werden. Bevorzugt im eigenen Kinderzimmer! Denn dort hauste, kaum drehte Mutter ihren Leib aus der Türfüllung, ein Gott namens CHAOS, dem das Kind ausgeliefert war. Dieser Gott lebte im Wäscheschrank, Spielzeugschrank, darauf, darunter, im Schulranzen, hinter dem Ofen, unter und auf dem Tisch und seine höllischen Diener hiessen DICKER STAUB oder ALTER KAUGUMMI oder inkarnierten als Luftwesen, die auf die Bezeichnung MAUKEN hörten und sich bei entsprechender Ignoranz zu fussballgroßen Nestern zusammenballen konnten. Der Altar jedoch, der Altar dieses Gottes CHAOS befand sich im zentralen Hort von allem Dunkel: unterm Bett! Dort ging es bisweilen sehr eng zu, da sich hier Teddyteile, Gummiindianer und verloren geglaubte Turnsachen den wenigen Platz teilen mußten. Hatte dies Konsequenzen? Gab sich meine Mutter geschlagen? Immer dann, wenn es gerade unten im Hof um Leben und Tod ging, die Nachbarplatzbande mit den Kartoffeln aus den Futtereimern unseres Hauses eine epische Schlacht anzettelte, erschallte ein Ruf über die Hinterhöfe, die jeden Colonel Custer der Wäscheplätze, jeden Ulzana des Fliedergestrüpps das Mark in den Knochen gefrieren ließ: "Raaaaaaaaaaaaaaaaaaymoooooooooooond!" Nun, irgendwann gefror nur noch MEIN siegessicheres Lächeln, denn nicht zu überhören galt dieser Aufruf mir. Kaum noch, dass ich dafür mitleidiges Lächeln meiner Spielkameradinnen und - freunde erntete. Eher gab es Ärger über die Schwächung unserer Phalanx. Mußte Muttern denn gerade jetzt, in diesem wichtigen Moment durch einen blöden Zufall in mein Zimmer geraten und weiß der Teufel warum, unter das Bett klotzen? Ja, sie mußte! Und das nicht zufällig, sondern das hatte System. So kam es mir jedenfalls vor. Dieses System bestand darin, zu warten, bis ich mich auf den Hof gestohlen habe um dann triumphierend aus dem Fenster des dritten Stockes zu lehnen und mir vor allen Leuten dieses vorwurfsvolle "Kommst Du mal hoch. Aber ein bischen plötzlich!" um die Ohren zu schlagen. Ja, das war wie eine Ohrfeige. Immer und immer wieder. Ich meine, ich hätte vielleicht das blöde Zimmer auch mal aufräumen können, bevor ich das Weite suchte. Aber daran hinderte mich ja jemand. Mein Gott! Der von unterm Bett.

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