Die Idee zu diesem Blog ist aus Zufall entstanden. Mit Freunden saß man in einer rotweinseligen Runde und plötzlich waren kratzende Strickhosen, verhunzte Poesiealben, furchtbare Haarschnitte und die Ignoranz der Banknachbarin ein Thema. Die Frage stellte sich schnell: Was hat einem in der Kindheit am allermeisten den Nerv geraubt? Vor allem macht es natürlich Freude, sich selbst in den Erlebnissen der anderen wiederzufinden.

Genau deshalb kommt jetzt der Blog ins Spiel. Wo kann man sich besser austauschen, als im Web? Wer sich bemüßigt fühlt, zu einzelnen Lebensabschnitten und Themenbereichen dieses Blogs was beizutragen oder nur zu kommentieren, ist herzlich eingeladen....
Viel Spass beim Mitschreiben und Lesen wünscht Raymond Schön
Montag, 13. August 2007
Helmfriseure
Heute geht es weiter mit meiner Mutation zum blonden Prinz Eisenherz, wo ich doch lieber Tarzan gewesen wäre. Wer hatte schuld? Natürlich der Friseur!
Irgendwann, ich denke so mit 10 oder 11 Jahren, schaute man etwas bewußter in den Spiegel. Und man erkannte sich nicht. Oder man sah plötzlich auf dem alljährlichen Klassenfoto keinen Prinzen/ keine Prinzessin mehr, sondern ein haltungsgeschädigtes Wesen vor geblümten Klassenzimmerhintergrund, welches anstatt Haare auf dem Kopf einen helmartigen Topf trug - je nachdem rattenblond oder semmelknödelaschfahl, was auf den Schwarz-Weiss-Bildern keinen Unterschied machte.
Was die ambitionierten Eltern bzw. die lustlosen 1.50 Mark Kinderverunstalter der PGH Marcel einen als praktische Schüttelfrisur schmackhaft machen wollten, war einfach nur ein Akt der Stigmatisierung: Seht her, das ist ein Kind - willen- und stimmlos, ich kann es wie meinen Pudel herumlaufen lassen und seine Haare wie die Fusseln nach Art des Wohnzimmerteppiches trimmen! Nicht allein der Topfschnitt war die Zumutung, widerlich der ganze Gang zum Friseur, der, wie bereits erwähnt, in den seltensten Fällen dieses nervige Kind als professionelle Herausforderung an eine weltbewegende Kreativität im Umgang mit Menschenfell ansah. Es war lästig, irgendwo zwischen Kaltwelle für Frau Mannschatz und Messerformschnitt für Herrn Kruse auf einen dieser viel zu großen Monstersessel gefesselt zu sein. Dafür gab es erst einen stinkenden Plastikumhang, der mit einem kratzigen Klebeband an den Hals geschweißt wurde, so daß selbst eine Kopfbewegung schmerzlos nicht mehr möglich war. Immer mußte man warten. Als Kind mußte man immer mindestens eine Viertelstunde, wenn nicht gar eine Ewigkeit in dieser Lage verharren und es juckten einem schon dabei die imaginierten Haare am Nasenflügel. Nach dieser Begrüßungsquälerei begann das eigentliche Verstümmeln.

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So ungefähr in vollem Ornat: Helmfrisur, Strickpullover

Die Frage "Wie immer?" wurde in den sprühlackverseuchten Salonhimmel gemurmelt, Mutter nickte rituell, das Urteil war gefällt. "Wie immer" bedeutete nun nicht etwa der elegante Herrenschnitt, hinten fein mit dem alten, aber scharfen Rasiermesser sensibel abgestuft, vorn nach Art der individuellen Verwirbelung in die Stirn geschmeichelt. Nein. Es bedeutete maximal fünf Minuten mit genau einer Schere, einer Handhaltung und einer friseurtechnischen Grundeinstellung das Minimalprogramm abzuspulen. Der Kamm wurde nur dazu benutzt, die Haare nach unten zu kämmen, was bei meinem Spagetthihaar besonders einfach zu bewerkstelligen war. Den Rest der Kreation übernahm die Schere wie von selbst, als wenn allen Friseuren, Friseusen und deren Werkzeugen ein einheitliches Programm innegewohnt hätte bis zu einem bestimmten Alter ihres Klientels in etwa 30 mal Schnipp-Schnapp und ab! zu machen - in der geradesten Linienführung, die es nur noch in den Parteistatuten gegeben hat. Ende vom Lied ohne Happy End - ich sah aus, wie ich immer aussah, bevor ich mich wehren konnte - Prinz Eisenherz mit dem Topfschnitt - Haare, von denen einzelne Strähnen auf jeden Fall nach dem Aufstehen bis zur sechsten Schulstunde nicht mehr an den Kopf zu kleben waren, Haare, die mir die letzte Individualität raubten, da etwa 40% meiner Klassenkameraden und -kameradinnen gleichfalls den Welteinheitsschnitt für Präpubertierende tragen mußten. OK, damit war man also nicht allein, aber glücklicher deswegen auch nicht. Kaum einer sah in den 1970er Jahren bis 10- 11 haartechnisch so aus (Tarzan, Sandokan, Rinaldo Rinaldini, Björge...) wie man es sich vorstellte - vielleicht ja der Jochen, dessen Mutter Alkoholikerin war. Mochte man da tauschen? Manchmal hätte ich gern Muttern ordentlich mit Eierlikör abgefüllt...

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