Die Idee zu diesem Blog ist aus Zufall entstanden. Mit Freunden saß man in einer rotweinseligen Runde und plötzlich waren kratzende Strickhosen, verhunzte Poesiealben, furchtbare Haarschnitte und die Ignoranz der Banknachbarin ein Thema. Die Frage stellte sich schnell: Was hat einem in der Kindheit am allermeisten den Nerv geraubt? Vor allem macht es natürlich Freude, sich selbst in den Erlebnissen der anderen wiederzufinden.

Genau deshalb kommt jetzt der Blog ins Spiel. Wo kann man sich besser austauschen, als im Web? Wer sich bemüßigt fühlt, zu einzelnen Lebensabschnitten und Themenbereichen dieses Blogs was beizutragen oder nur zu kommentieren, ist herzlich eingeladen....
Viel Spass beim Mitschreiben und Lesen wünscht Raymond Schön
Mittwoch, 15. August 2007
Zopfgemustert
Grundursache manch übler Kleiderposse war, so bestätigen mir das gleichfalls viele Leidensgenossinnen und - genossen, der Sparsamkeitswahn der Eltern gepaart mit zumeist mütterlicher Überqualifikation in Sachen Textilverarbeitung. Was in deren frühen Hauswirtschaftsunterricht mit zarten Taschentuchumhäkelungen begann, endete spätens beim ersten eigenen Kind in zügelloser Strickorgie. Es gab, anderen Stimmen zufolge, auch eine ganze Reihe von selbstlosen Müttern, die die Rohrleitungspläne ihrer Heimatstadt, genannt: Schnittmusterbögen in Stoffkreationen umsetzten und damit ihre unschuldigen Kinder in der Schule rundlaufen ließen.
Ich gehörte zwar nicht zu diesen, aber zu jenen, die halbjährlich (also auch sommers), mit einem neuen Strickmodell aus dem Hause "Mutti macht's selber" beschenkt wurden. Als kleineres Balg konnte man sich den kratzigen Plunder nur durch Schreien und verstärkten Ausschlag vom Leibe halten. Erst als Halbwüchsiger wurde ich, vor die Alternative kratzige Wolle oder wenigstens tragbar in halbwegs akzeptabler Farbe, gestellt, mit in die Auswahl des Fadens einbezogen. Viel änderte das nicht am ungeliebten Textil. So hatte ich mir doch einmal für den obligatorischen Weihnachtspollunder die absolute Modefarbe violett in Richtung blaßlila-fliederfarben ausgewählt und mußte dann, als ich das Teil als letztes von der Geschenketafel schob, feststellen, dass bis auf die Farbe so ziemlich alles scheußlich aussah, was an einem selbstgestrickten Pullover scheußlich aussehen kann. So preiste mir meine Mutter mit freudigem Gesicht als besonderes Highlight ihrer Handwerkskunst den bei ihr so beliebten V-Ausschnitt an. Dieser sollte Einblicke auf das schöne, dazu passende Wolpryla-Hemd gestatten. Danke Mutti! Flankiert wurde der gewagte Ausschnitt von zwei absolut dicken Zopfmustern, die sich wie Säulen nunmehr an mir herunterschlängelten. Ich war am Durchdrehen. Mein Hals und meine schlaksigen Arme verknoteten sich bereits und begannen sich als Zopf ineinander zu verschlingen. Mein Gesicht lief lila-fliederfarben an. Wie sollte ich so unter Menschen gehen, die nicht glauben sollen, ich hätte mich schon sehr früh zum gleichen Geschlecht bekannt?
Eine andere Tatsache in der weihnachtlichen Erziehungsarbeit, die ich nie vergessen werde, ließ mich in den Augen meiner männlichen Klassenkameraden ähnlich "anders" ausschauen. Fraßen sich andere Kinder an den Adventsabenden die Bäuche mit Lebkuchen rund, so saß ich im trauten Heime mit meiner Mama und umhäkelte mit feinstem Garn Taschentücher! Irgendwie war ich selbst schuld an dieser Misere, hatte ich mich doch einschmeichlerisch zunächst sehr für die technische Realisierung dieser Umbordung interessiert. Nach den ersten geglückten Versuchen und vielen produzierten Putzlappen verlor ich jedoch die Freude daran. Nicht so jedoch meine Mutter, die die seltenen Momente genoss, in denen ich, mit ihren Augen gesehen, etwas sinnvolles anstellte. Am Ende konnte ich mich von dieser verpflichtung befreien, nie jedoch von den zahllosen Wollschals, Wollmützen und Wollpullovern.
Mit 17 Jahren, kurz vor dem Ausbruch aus der mütterlichen Behausung, wollte ich zum ersten Mal freiwillig eines dieser wollenen Überzieher. Der Grund: die späten Siebziger brachten auch für uns den Blues, die junge Gemeinde war der schickste Jugendtreff und wer mit der Rezitation des ersten Kapitels aus dem kleinen Prinzen Eindruck schinden wollte, mußte auch "peacermäßig" gekleidet sein. Und das bedeutete neben den langen Loden eben auch Strickpullover - allerdings möglichst zwei Größen zu groß. Das war zwar mit meiner Mutter nicht zu machen, aber es gab da eine sensationell einfache Methode: das gerade noch enganliegende Schmuckstück wurde durch die Badewanne mit kalten Wasser gezogen, heftigst ausgewrungen bis es leise knackte, dann zog man es sich auf den baldigst fröstelnden Leib. In Hockhaltung auf dem Fußboden sitzend steckte man nun seine Knie noch mit in den Pullover und drückte wiederum das Gewebe auseinander und zog den Rand bis zu den Füßen. War man so erfolgreich und konnte trotz Expresserkältung wieder aufstehen, wurde man mit einem Strickkleid belohnt, was wenigsten bis zu den Knien reichte - allemal eine 100%ige Verlängerung.
Für die dazu gehörigen Ketten musste ich das weitgehend ungenutzte Reservoir meiner Mutter plündern. Die immense Anzahl an superkleinen bunten Perlen für die immens langen Würgeketten war einfach nicht anders zu aquirieren. Das schreckliche und peinliche Erlebnis folgt so denn auf dem Fuß. Mich in vollem Ornat (Wollpullover, Würgekette viermal gewickelt, Jeans, Jesuslatschen, fettiges Haar) im Bus nach dem entschwundenen Fahrschein bückend, bemerkte ich nicht, wie sich die Kette unter meiner rechten großen Zehe festhakte. Ruckartig aufgestanden vernahm ich nur noch ein Prasseln, welches mir die in Sekunden vergebene Mühe tagelangen Auffädelns signalisierte. Hätte ich doch nur nicht den Bindfaden für die sonntäglichen Rouladen dafür ausgesucht, sondern Angelsehne, wie Hardy! Vielleicht hätte es ja auch ein Wollfaden gebracht?

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